Eigentlich hatte Christoph von Marschall die Veröffentlichung dieses Buches erst zur ursprünglich geplanten Bundestagswahl am 25. September vorgehabt. Aber ab Dezember überstürzten sich die Ereignisse, die FDP wurde aus der Ampel geschmissen, Olaf Scholz stellte im Bundestag die Vertrauensfrage und verlor erwartungsgemäß. Und im Februar wählten die Deutschen einen neuen Bundestag. Und noch vom alten Bundestag wurde neben einem großen Infrastrukturpaket auch ein gewaltiges Programm zur Aufrüstung der Bundeswehr beschlossen. Doch den vorgezogenen Wahltermin konnte kein Verlag schaffen.
Sodass von Marschalls Buch dann zur Leipziger Buchmesse vorlag, also gleichzeitig mit Carlo Masalas Buch „Wenn Russland gewinnt“. Sein Ansatz ist ganz ähnlich.
Auch er geht von den Versäumnissen der deutschen Verteidigungspolitik aus, den Schwächen der NATO und dem rigiden Politikwechsel mit Donald Trump im Weißen Haus, der die Europäer auf einmal vor die Herausforderung stellt, sich in Konfrontation mit Russland auf die eigenen Kräfte verwiesen zu sehen und womöglich auf keine amerikanische Waffenhilfe mehr rechnen zu können. Und auch von Marschall geht von einem in westlichen Militärkreisen als plausibel angesehehen Szenarium aus, dass der russische Präsident im Jahr 2028 die Möglichkeit austesten könnte, mit einem Angriff auf ein NATO-Land die Grenzen des westlichen Militärbündnisses auf die Probe stellen zu können.
Voraussetzung auch dafür: Ein im Jahr 2025 der Ukraine aufgezwungener Frieden, der Russland territoriale Gewinne bringen und die Ukraine praktisch entwaffnen würde. Also ungefähr das, was dabei herausgekommen wäre, wenn Trump mit seinem „Friedensvorschlag“ Erfolg gehabt hätte. Und was mindestens zwei Parteien gemeint haben mussten, als sie mit ihren platten Friedensparolen in den Bundestagswahlkampf zogen.
Von Marschall weiß, dass sie dabei immer auch auf eine besondere Mentalität bei ihren Wählern rechnen konnten. Weshalb er große Teile seines Buches auch der Untersuchung widmet, warum ausgerechnet die Deutschen eine derart eigensinnigen und egoistischen Pazifismus pflegen, anders als ihre Nachbarstaaten, die teilweise deutlich schneller und klarer auf die russische Bedrohung reagiert haben und der Ukraine schneller substanzielle Hilfe zukommen ließen, nach Jahrzehnten der Neutralität schnellstmöglich in die NATO eintragen (Schweden und Finnland) und massiv in die Aufrüstung ihrer eigenen Armee investierten, um im Ernstfall nicht wehrlos dazustehen.
Ungeliebte Bundeswehr
Während Deutschland ja bekanntlich wie kein anderes Land ab 1990 die sogenannte Friedensdividende genoss und die Ausgaben für die Bundeswehr prozentual am Haushalt geradezu halbierte auf einen historisch tiefen Wert um die 1 Prozent, während es noch in den 1980er Jahren 2,5 Prozent und in den 1970ern über 3 Prozent waren. Was im Ergebnis bedeutete, dass die Bundeswehr drei Jahrzehnte lang regelrecht auf Verschleiß gefahren wurde.
Nur blieb es dabei nicht. Regierung um Regierung verschloss dann auch noch die Augen davor, dass Wladimir Putin den unter Gorbatschow und Jelzin begonnenen Demokratisierungsprozess in Russland regelrecht abwürgte und das Budapester Memorandum einfach ignorierte, in dem Russland im Gegenzug dafür, dass Länder wie die Ukraine ihre Atomwaffen abgaben, diesen Ländern die territoriale Integrität zusicherte.
Doch dagegen verstieß schon die Okkupation der Krim von 2014 und die Unterstützung der Separatisten im Donbass. Spätestens hier hätten auch im Bundeskanzleramt sämtliche Alarmglocken schrillen müssen. Doch Deutschland setzte auch jetzt noch auf Verhandlungen, statt die Abhängigkeiten von Russland zu verringern. Die größte Abhängigkeit bis zum Februar 2022 waren die Lieferungen scheinbar billigen russischen Gases. Gegen alle Warnungen auch aus Washington unterstütze man auch noch den Bau der Ostsee-Pipeline Nordstream II.
Von Marschall geht in seinem Buch deutlich über den Rahmen hinaus, in dem Carlo Masala das Problem untersucht hat und die imperialistische Doktrin Putins in ihren Konsequenzen gezeichnet hat. Denn nicht nur im Verhältnis zu Russland zeigte die deutsche Politik in den vergangenen 20 Jahren eklatante Defizite und Wirklichkeitsverweigerungen.
Fehlende Führung
Es ist kein Zufall, dass Deutschland nicht nur in dieser Frage eine ziemlich einsame Rolle in Europa spielt, geprägt durch Zögern und Zaudern. Was aber nicht nur mit der noch immer nicht beendeten Suche Deutschlands nach einer neuen Rolle in der europäischen Staatengemeinschaft zu tun hat. Auch wenn das natürlich eine Rolle spielt.
Denn anders als die Nachbarländer hat Deutschland ja tatsächlich das Trauma des mörderischen NS-Regimes zu tragen. Wie geht man damit um, dass man als Land den ganzen Kontinent mit einem mörderischen Krieg überzogen hat und mit dem Holocaust die schlimmste Tötungsmaschinerie aufgebaut hat, die es bislang in Europa gab?
Da ist durchaus verständlich, dass die Deutschen nur zu bereit waren, nicht nur die Europäische Gemeinschaft mitzugründen, sondern darin auch auf eine Führungsrolle immer wieder zu verzichten, quasi ins Glied zurückzutreten auch aus Angst vor der eigenen geschichtlichen Rolle und der Wiederholung alter Muster.
Wie sehr diese deutsche Verweigerung einer Führungsrolle, die dem Land schon aufgrund seiner wirtschaftlichen Kraft eigentlich von Natur aus zukam, die EU geschädigt und in wichtigen Bereichen geradezu handlungsunfähig gemacht hat, schildert von Marschall sehr ausführlich. Und kommt natürlich zur Erkenntnis, dass sich Deutschland nicht immer nur hinter seiner Vergangenheit verstecken kann und dabei anderen dann die Verantwortung und die Hauptlast überlassen darf.
Das betrifft auch den Schutz Europas. Denn der beruht bis heute vor allem auf der militärischen Stärke der USA. Doch das ändert sich gerade – und zwar nicht erst seit Trumps zweitem Einzug ins Weiße Haus. Denn am anderen Ende der Welt schürt China den Konflikt mit Taiwan. Und die USA sehen längst schon in China den eigentlichen Rivalen, auf ökonomischem Terrain genauso wie auf militärischem. Und die russische Aggression tobt ja nicht nur in der Ukraine.
Längst sind die Folgen der hybriden Kriegführung auch in anderen Ländern Europas und auch in Deutschland zu sehen. Immer wieder kommt es zu massiven Internetattacken auf wichtige Infrastrukturen, werden auf europäischen Boden russische Dissidenten umgebracht, werden wichtige Unterseekabel in der Ostsee zerstört.
Alles Dinge, an die man sich so gewöhnt hat, dass man glatt die Frage vergisst, warum darauf die deutschen Regierungen nicht mit deutlichen Warnungen reagiert haben und das nicht als deutliche feindliche Akte werten?
Ein Erfolgsmodell in der Krise
Ein paar Erklärungen bietet von Marschall, der als Diplomatischer Korrespondent für den „Tagesspiegel“ arbeitet und am Woodrow Wilson Center zahlreiche Kontakte zu Experten knüpfen konnte, die sich intensiv mit der europäischen Verteidigung beschäftigen. Aber ihm ist auch bewusst, dass auch das ökonomische Erfolgsmodell Deutschland dabei eine Rolle spielt. Eben jenes Erfolgsmodell, das seit sechs Jahren deutlich in die Krise geraten ist.
Denn wie kein anderes Land auf der Erde profitierte Deutschland von der regelbasierten Nachkriegsordnung, in der sich Staaten an Verträge hielten, Freihandel zum gewählten Modell der Wirtschaftspolitik wurde und andere Länder mit Freuden deutsche Produkte kauften. Jahrzehntelang feierte Deutschland seinen Titel als „Exportweltmeister“ – und vergaß dabei völlig, dass so ein Titel kein Selbstläufer ist und von Rahmenbedingungen abhängt, die Deutschland allein nicht bestimmen kann.
Es waren nicht nur die Corona-Pandemie und der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, die dieses Erfolgsmodell beschädigt haben. Die zunehmenden Konflikte im Roten Meer und um die Schifffahrtswege durch den Suezkanal und die Wirtschaftsdellen in China trugen ebenso dazu bei, dass wichtige internationale Handelsketten in Unordnung gerieten und gerade die exportorientierte deutsche Wirtschaft Probleme bekam.
Ein Thema, das von Marschall dabei nicht anspricht, ist der mittlerweile enorme Einfluss der deutschen Wirtschaftslobby auf die deutsche Politik, die unter anderem das Bild erzeugt, die deutsche Wirtschaft leide vor allem an zu viel Bürokratie und staatlicher Regulation. Was schlichtweg die falschen Ursachen für die Klemme beschreibt, in der die deutsche Wirtschaft inzwischen steckt.
Die Fundamente des deutschen Erfolgsmodells wurden unterspült, schreibt von Marschall. Die Zeit, dass freier Handel rund um die Welt problemlos funktionierte, sind vorbei. Und während China gelernt hat, all die tollen Importe aus Deutschland nachzubauen und schneller und billiger herzustellen, haben Deutschland und EU bis heute nicht gelernt, sich gegen Dumping-Importe aus Fernost zu schützen.
Wenn ein Staat nicht investiert
Von Marschall schildert leider auch nicht den massiven Ausfall des deutschen Staates als Investor und damit Konjunkturlokomotive, der mit der seit drei Jahrzehnten verfolgten neoliberalen Politik zusammenhängt. Von Marschall breitet zwar ein sehr weit gespanntes Gelände auf, mit dem er die Verflechtung gleich mehrerer deutscher Probleme miteinander sichtbar macht.
Aber gerade das zeigt, dass eben noch viel mehr dazu gehört – was dann auch die Politikverweigerung mehrerer deutscher Regierungen miterklärt, die – statt zum Motor der europäischen Integration zu werden – immer wieder deutsche Sonderwünsche auf die EU-Agenda hievten und wichtige Richtungsentscheidungen verhinderten. So ein Land kann nicht wirklich darauf rechnen, von seinen Nachbarn als Führungsmacht respektiert zu werden.
Und so ist von Marschalls Buch vor allem eine Warnung, dass die Uhr jetzt tickt. Stand: ungefähr Januar 2024. Als wirklich noch das drohende Szenarium im Raum stand, dass Russland und die USA der Ukraine einen Diktatfrieden aufzwingen könnten, der Putin alle Zugeständnisse machen würde, die er verlangt hat. Und ihm gleichzeitig wieder Zeitg verschaffen würde, den nächsten militärischen Test vorzubereiten.
Den Zeitpunkt für diesen Test setzt von Marschall auf den Herbst 2028, kurz nach den nächsten Präsidentschaftswahlen in den USA, ein Zeitpunkt, in dem die USA praktisch völlig mit sich beschäftigt sind und noch kein neuer starker Präsident vereidigt ist, der sofort reagieren könnte, wenn Putin seine Truppen in Litauen einrücken ließe.
Litauen deshalb, weil dort ein Einsatzkommando der Bundeswehr stationiert ist. Damit wäre nicht nur Litauen sofort im Krieg, sondern eben auch Deutschland. Und das mit einer Armee, die ganz eindeutig noch nicht auf dem Stand ist, einer solchen Aggression standzuhalten und einen russischen Angriff so deutlich abzuwehren, dass dem Diktator im Kreml tatsächlich die Grenzen aufgezeigt werden. Die russische Attacke wird also zum Schwarzen Dienstag.
Die Realität da draußen
„Dieses Buch will wachrütteln“, schreibt von Marschall. „Und Mut machen.“ Aber ganz beiläufig zeigt er, wie sehr sich der Blick der Deutschen in den letzten Jahren verengt hat auf ihre eigene Befindlichkeit allein. Und damit auch verschlossen hat für die Tatsache, wie abhängig Deutschland von der lange Zeit gut funktionierenden Weltwirtschaft geworden ist. Da stecken die diversen Regierungen genauso im Dilemma wie die Couchpotatoes vor den Bildschirmen.
Was dabei völlig verloren ging, waren Politiker von mindestens europäischem Format, die auch die Fähigkeit zur Moderation haben. Denn Führung bedeutet eben nicht, dass man alle anderen EU-Mitglieder dazu zwingt, nach der eigenen Pfeife zu tanzen. Führung bedeutet, mit den Anderen gemeinsam praktikable Lösungen zu finden. Aber so ein Gemeinsinn verträgt sich nun einmal nicht mit deutschen Extrawürsten und deutscher Realitätsverweigerung.
Und so endet von Marschall dann seine Mahnung auch: „Die Deutschen und ihre Regierenden sind den globalen Ereignissen nicht schutzlos ausgeliefert. Sondern: Sie müssen lernen, die Welt, wie sie ist, zu akzeptieren und zu umarmen.“
Das wäre dann ein anderes Denken über Partnerschaft. Und über eine Realität, wie sie ist. Unfriedlicher zumeist und noch immer – auch das stellt von Marschall fest – von Nationen und nationalen Interessen dominiert. Es gibt gewaltigen Veränderungsdruck, wie er feststellt. Ob die sieben Lösungen, die er vorschlägt, die richtigen sind, darüber darf man streiten. Sie erzählen zumindest auch davon, dass sich Land und Politik 20 Jahre lang regelrecht davor gedrückt haben, die Veränderungen in der Welt wahrzunehmen.
Es ist ungemütlicher geworden. „Deutschland kann Krise“, schreibt von Marschall. Aber damit meint er vor allem, dass Deutschland aus Krisen lernen und sie bewältigen kann. Aber das funktioniert eben nur, wenn man nicht immer so tut, als würden die Krisen einfach vorbeigehen, wenn man die Augen davor verschließt.
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Keine Kommentare bisher
Marschall möchte folglich eine bis an die Zähne bewaffnete Ukraine (was seit 1999 ja auch geschah, zumindest genug um “zu bluten, nicht um zu gewinnen” lt. R. Goff) und dann sei Frieden, zumindest Dienstag 2028? Die BRD also als starke Führungsnation, mit Respekt bei den Nachbarn? Klare Kante, klare Ostflankenstrategie, wie damals eben. Die Ukraine hatte übrigens nie ukrainische Atomwaffen, und auch keine Verfügungsgewalt über die SU Atomwaffen. Wo sind die Beweise dass die russische Aggression Unterseekabel in der Ostsee zerstörte? Die Naziopas von Fritze, Annalena usw. wären begeistert und hätten vielleicht gleich zwei Exemplare vorbestellt…