Den Titel darf man mehrdeutig lesen. Und so war er von Sebastian Haffner (1907–1999) wohl auch gemeint, als er im Oktober und November 1932 diesen Roman in einem furiosen Tempo niederschrieb – und dann doch ein Leben lang nie veröffentlichte. 1932 war längst der günstige Zeitpunkt vergangen. Die Weimarer Republik steckte in ihren letzten Zügen. Und später veröffentlichte Haffner lieber ganz andere Schriften, wurde zu einem der bekanntesten Aufklärer der Deutschen über die Ursachen des Aufstiegs der Nazis. Und dabei ist sein Roman eine Perle.
Er erinnert auch im Stil an einen Glücksmoment in der deutschen Literaturgeschichte, der 1933 von den Nationalsozialisten unbarmherzig zertrampelt wurde. Darauf nimmt Sebastian Haffner – der 1932 noch mit bürgerlichem Namen Raimund Pretzel hieß – in seinem im Jahr 2000 ebenfalls postum erschienenen Buch „Geschichte eines Deutschen“ Bezug, wo er schrieb: „Bei den Besten der deutschen Jugend von 1925 bis 1930 bereitete sich damals in der Stille etwas sehr Schönes, sehr Zukunftsträchtiges vor: ein neuer Idealismus jenseits des Zweifels und der Enttäuschung; eine zweite Liberalität, die weiter, umfassender und reifer war als der politische Liberalismus des 19. Jahrhunderts; ja, vielleicht sogar die Grundlagen eine neue Vornehmheit, eine neue Aristie, einer neuen Ästhetik des Lebens.“
So zitiert ihn Volker Weidermann in seinem Nachwort, in dem er die Entstehungsgeschichte von „Abschied“ in Haffners Biografie verortet.
Denn hinter der Romanhandlung stecken wirkliche Erlebnisse, steckt eine echte Liebe des jungen Referendars Raimund Pretzel zu einer jungen Frau, die er im Frühjahr 1931 in Paris besucht. Im Buch heißt sie Teddy. In der Realität hieß sie Gertrude Joseph und hatte Deutschland schon im September 1930 verlassen, um an der Sorbonne zu studieren. Aber auch, um Deutschland zu verlassen. Denn was im Januar 1933 an die Macht kam, kündigte sich lange vorher schon an.
So klar sah das Raimund noch nicht. Auch wenn in ihm der Widerwille brodelt, nach Deutschland zurückzukehren und sich wieder der tristen Tätigkeit als Jurist zu widmen. Nicht grundlos wird Haffner seinen Helden mit seinem eigenen Namen durch diese letzten Tage des Abschieds gehen lassen, in denen er versucht, an die Tage mit Teddy damals – vor einem Jahr – in Berlin anzknüpfen.
Paris im Rausch
Doch dieser Teddy hat sich verändert, hat ihren eigenen Kopf. Und konfrontiert den braven Raimund auch mit der Frage, warum sie nach Berlin zurückkehren sollte. Auch wenn sie nicht konkret wird. Aber dieses Berlin macht ihr Angst.
Es ist ein anderes Unbehagen als das, das den jungen Referendar zögern lässt und seine Abschiedsrunde bis auf den allerletzten Tag in Paris aufschieben lässt, wo noch einmal alles auf dem Programm steht, was man in Paris gesehen haben muss – Louvre und Eiffelturm. Die Stunden verrinnen, die Abfahrtszeit des Zuges rückt immer näher. Eine geliehene Armbanduhr muss noch zurückgegeben werden. E
in Café besucht mit den letzten paar Franc in der Tasche. Dabei weiß Raimund, dass auch Teddy mit verdammt wenig Geld auskommen muss.
Er ahnt, dass das ein Abschied für lange werden wird. Und vielleicht ist auch schon so eine Ahnung da, dass er es selbst in diesem „neuen“ Deutschland nicht mehr lange wird aushalten können. Die Grenzen zwischen dem Autor Raimund Pretzel und seinem alter Ego in der Geschichte sind fließend.
Fließend auch, weil er diese letzten Stunden wie einen Rausch beschreibt, in einem furiosen Tempo, in dem Raimund und Teddy immer wieder Orte und Verkehrsmittel wechseln – mal fahren sie im Taxi durch die Pariser Nacht, mal zockeln sie mit der altertümlichen Straßenbahn, dann wieder jagen sie mit der Metro durch den Pariser Untergrund. Die Zeit rennt. In solchen Stunden merkt man, wie wenig Zeit eigentlich geblieben ist und wie Vieles ungesagt und unerledigt blieb. So wie im richtigen Leben.
Man fährt davon mit dem bohrenden Gefühl, das Wichtigste nicht getan zu haben. Und vielleicht an den falschen Ort zurückzukehren. Man lebt wie im Fieber, aufs höchste aufgeregt und gleichzeitig wie zerschlagen. Und wer diesen Roman jetzt in die Hand bekommt, wird erstaunt feststellen, dass er ihn auch stilistisch in diese furiosen 1920er Jahre hineinreißt, in die Sprachwelt der Tucholsky, Kästner, Döblin. Und es ist wie ein Schock, weil diese leicht sarkastische, abgeklärte, abgezockte Art zu erzählen ganz offenkundig mit dem Sieg der Nazis Vergangenheit war. Flächendeckend verschwunden ist aus der deutschen Erzählliteratur.
Verlorene Leichtigkeit
Als die großen, vom „Tausendjährigen Reich“ zerbeutelten Autoren danach wieder anfingen zu schreiben, war das Tempo ein völlig anders, zergrübeltes, tragisches. Auch das war große Literatur. Aber eine mit Fallstricken, Abgründen, dem Entsetzen am Horizont. Der so scheinbar leichte und schnippische Ton, den auch Haffner in diesem Roman noch anschlug, war auf einmal nicht mehr möglich. Und er ist auch nie wieder zum Vorschein gekommen. Auch weil Deutschland nun einmal mit dem NS-Reich auch einen gewaltigen Braindrain erlebte.
Das betrifft auch Teddy bzw. Gertrude, die als Tochter eines jüdischen Ehepaares geboren wurde und aus gutem Grund nicht in das mörderische Deutschland zurückging. Und eigentlich betraf es auch Raimund Pretzel, der erst in der Emigration, in die er 1938 aufbrach, zu Sebastian Haffner wurde und erst 1954 nach Deutschland zurückkehrte, um hier als Journalist zu arbeiten. Und in großen Büchern den Deutschen ihre eigene verkorkste Geschichte zu erklären. Aber sie hören ja nie zu. Sie lesen und verstehen nicht. Oder lesen auch nicht und glauben alles zu wissen.
Und so liest man in Raimund Abschied von Paris und von Teddy auch den (vorweggenommenen) Abschied von einem Deutschland mit, in dem für ein paar leuchtende Jahre alles möglich schien. Sogar, dass es mal ein wirklich lebendiges und modernes Land werden könnte, mit einem leicht schnippischen Verhältnis zu sich selbst und seinen eigenen Macken. Jener grandiosen Fähigkeit, sich selbst nicht immer nur bierernst zu nehmen und selbst dann, wenn Liebe und Abschied richtig weh tun, ein kleines verschmitzes Lächeln aufzusetzen, sich selbst zu sehen, wie man sich fühlt: närrisch und hin- und hergerissen.
Das wilde Tempo der Freiheit
Aber genau das hassten die damaligen Berserker. Und die heutigen hassen es auch. Es konterkariert ihre ganze deutschtümelnde Verbissenheit, zeigt, dass das Leben leichter und freier sein kann. Offener sowieso. Jeder Moment ist voller Möglichkeiten. Auch das trug ja für Generationen diese Sehnsucht nach Paris, die auch diesen Raimund bewegt. Hier war greifbar, wie Moderne gelebt werden konnte.
Und das verbindet sich für diesen Raimund auch mit Teddy, auch wenn die Liebe aus Berlin nicht wieder erscheinen wird. Auch davon ist das ein Abschied. Und von den Illusionen, es könnte da in Berlin noch einmal anders werden, sowieso. Der kurze Frühling eines anderen, lebendigeren Deutschland, war schon vorbei. Wurde mit Stiefeln zertrampelt, mit Gebrüll und Verachtung auf jeden Hauch entfesselter Freiheit.
Freiheit, die sich geradezu bündelte in einem Stil, der alles gleichzeitig werden ließ. Zumindest in immer kürzere, atemlose Sätze presste. Selbst Raimunds Erinnerung an die verliebten Tage in Berlin klingt so: „Fuhr am nächsten Tag nicht nach Rheinsberg, gab an, ich hätte einen Hitzschlag bekommen. Saßen im Palais am Zoo, tanzten. Eine spanische Tangokapelle spielte, tolle Leute, sangen dazu mit ihren Männerkehlen, stark dröhnend, Beschwörung und Schlachtgebet. Teddy wusste jeden Text …“
Aus und vorbei. „Zum Schluss, wenn man sich endlich wieder klargemacht hat, dass es eben doch vorbei ist, ist man in einem Zustand, als hätte man sich die Seele irgendwo festgeklemmt. Es tut scheußlich weh, beinah wie ein eingeklemmter Finger. Als Teddy kam, gegen zwölf, lag ich mit gänzlich verklemmter Seele auf meinem Bett.“
Noch verbindet die beiden eine Menge. Viel nicht Aussprechbares. Aber eigentlich wissen beide, dass Raimund sich loseisen muss. Dass er Teddy in Paris zurücklassen muss. Mit den anderen Bewerbern, denen er sich auch nicht gewachsen fühlt. Er muss zurück. Zurück in den belastenden Justizdienst, den der richtige Raimund Pretzel schon bald nach der Machtübernahme der Nazis aufgeben wird. Fliehen wird regelrecht. Und lieber als Journalist weiterlebt und versucht, sich nicht schuldig zu machen, sich dem Regime nicht anzudienen. Bis auch das nicht mehr ging.
Euphorie des Abschieds
Das alles schwingt mit. Man muss es nicht wissen. Auch der Autor wusste es ja nicht, als er im Herbst 1932 diese Novelle niederschrieb. Als wäre er getrieben, sie noch vorher fertigzubringen, bevor das Land an die Henker fiel. Und so ist es ein riesiges Geschenk, dass das Manuskript im Bundesarchiv überdauerte und Haffmanns Sohn Oliver Pretzel das Manuskript fand und zur Veröffentlichung freigab. Vielleicht sollte es wirklich erst jetzt sein, vielleicht wäre es bei früherer Veröffentlichung einfach untergegangen. Wer weiß. Jetzt klingt es wie neu und gerade erst geschrieben.
Erinnerung an eine unerhörte Liebe, die den Erzähler noch immer in Aufregung versetzt und ihn ein bisschen hilflos macht in diesen letzten Stunden, in denen er noch einmal alles erleben darf mit Teddy, die ihn nicht ohne Paris im Kopf fortgehen lassen möchte. Und mit auf den Bahnsteig kommt, wo alles schon ans Abfahren gemahnt.
„Es gibt eine Euphorie des Abschieds. Es war plötzlich so, als hätten wir noch eine ganze lange, herrliche, ungestörte Zeit.“ Und dabei wissen wir es alle: Es ist längst zu spät. Die Zeit rast. Und der Zug wird uns fortschleppen an einen Ort, der trister nicht sein kann. Weil wir immer Teddy zurücklassen müssen. Und daran gar nichts ändern können.
Können wir das nicht? Solche Geschichten leben auch davon, dass es anders gehen könnte. Davon lebten auch jene fünf glänzenden Jahre, als die Weimarer Republik noch einmal Luft holte und alles möglich schien. Daran darf man sich erinnern beim Lesen. Es könnte helfen.
Sebastian Haffner „Abschied“, Hanser Verlag, München 2025, 24 Euro.
Empfohlen auf LZ
So können Sie die Berichterstattung der Leipziger Zeitung unterstützen:
Keine Kommentare bisher
Danke, lieber Autor, daß Sie es Norbert Wehrstedt gleichtun, der ja gestern in der LVZ ebenfalls eine schöne Rezension dieses Romans gebracht hatte. Von Haffner las ich mit großem Interesse vor etwa 25 Jahren”Geschichte eines Deutschen”. Markant darin seine Schilderungen des Begeisterungs-Irrsinns im August 1914. “Anmerkungen zu Hitler” steht mir bis heute noch bevor. Ich freue mich den Roman bald zu lesen.